Landesstelle Berlin für Suchtfragen e.V.
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Biografien

Tilo

männlich, 60, Alkoholiker und Mediensüchtig

Trocken und Clean – dafür bin ich dankbar.

Wie lange ich trocken und clean lebe, ist uninteressant. Zu viele Vergleiche werden mit der Länge angestellt. Damit werden Menschen unbewusst und bewusst vorverurteilt. Du bist solange trocken – ich solange … etc. Die Länge alleine beweist keine stabile Abstinenz. Zu viele Rückfälle, auch nach vielen Jahren beweisen das Gegenteil.

Trocken und Clean zu werden und zu bleiben, heißt, eine Entscheidung für das Leben zu treffen. Ich habe die Entscheidung für das Leben getroffen. Dazu gibt es für mich keine Alternative! Oder doch – wieder konsumieren? - Konsumieren ist für mich keine Alternative.

Die zentrale Frage ist, möchte ich trocken und clean werden und bleiben – oder weiter konsumieren?
Bin ich bereit etwas dafür zu tun oder nicht?
Und was bin ich bereit, dafür zu tun?

Vielleicht zur Abschreckung für die noch Unentschlossenen:
1 mal die Woche auf einer Entzugsstation aufhalten und sich das Gruselkabinett ansehen. Und daran denken, die Alkoholindustrie geht über Leichen und die Dealer auch.

So, nun zu mir:
Ich habe anfangs getrunken, weil es mir Spaß gemacht hat. Aus normalem Konsum wurde immer mehr, ohne das „Mehr“ zu bemerken. Am Ende konnte ich meinen Konsum nicht mehr kontrollieren – wollte es auch nicht mehr. Mein Körper brauchte den Stoff, reagierte unter einer gewissen Menge mit.

Anfangs anscheinend harmlosen und nachher sehr offensichtlichen Entzugserscheinungen. Diese endeten dann in einem fast dauerhaften Delir mit akustischen und visuellen Entzugserscheinungen. Gespräche mit Personen, die nicht anwesend waren... Sehen von Personen und Gegenständen, die nicht anwesend waren…

Gesundheitszustand vor dem 1sten Entzug:
Unterbrechung der Nervenbahnen zu allen Gelenken.
Bewegen der Hände und Füße im Normalzustand nicht mehr möglich.
Fortbewegung in der Wohnung nur noch im Kriechgang möglich.

Vor meinem ersten Entzug wurde ich als hilflose Person im Treppenhaus aufgefunden und ließ mich nur unter schwierigen Umständen von der Feuerwehr mitnehmen. Ich kam ins Krankenhaus, konnte nicht mehr laufen und musste notversorgt werden. Durch die Nervenunterbrechung war ich im Rollstuhl gelandet. Ich saß erst im Rollstuhl, machte nach einigen Tagen meine ersten Gehversuche.

Nach meiner Entlassung:
Ich hatte kaum über mich nachgedacht, nichts begriffen und besuchte keine Selbsthilfe-Gruppen. Nach einigen Monaten dann mein Versuch: Alkoholfreies Bier und kontrolliert zu trinken. Ich habe mich selbst belogen, um zu konsumieren. Der Versuch scheiterte – musste scheitern…

Auf dem Weg ins nächste Delir konnte ich noch aus eigenen Kräften die Feuerwehr informieren. Ich kam ins Krankenhaus zum zweiten Entzug. Die Behandlung und die Regeln waren abartig, ich war dabei abzubrechen. Nach meinem eigenen Sieg über meine rebellische Persönlichkeit (nach einigen schmerzhaften Erlebnissen im Krankenhaus) fing ich an nachzudenken und die ersten Entscheidungen für mich zu treffen.

Ich habe gesundheitliche Folgeschäden erlitten, die ich aber behandeln lasse. Bei weiterem Konsum wären die Folgeschäden schwer oder nicht mehr behandelbar, die weiteren Konsequenzen führe ich nicht auf. Nach regelmäßigen Besuchen auf Entzugsstationen für einen Suchthilfeverein weiß ich, dieses Spiel hätte für mich auch anders ausgehen können.

Warum bin ich bis heute trocken?
Anfangs habe ich immer wieder negative Erlebnisse und abscheuliche Gefühle mit dem Suchtstoff verbunden. Die Abscheulichkeit ist geblieben und unterstützt meine Achtsamkeit.

Warum fällt es mir so einfach, nicht zu konsumieren?
Es waren und sind die negativen Erlebnisse im Krankenhaus. Ich habe mich einfach dazu entschlossen, die Hinweise zu beachten, die Wege zu gehen, die mir von den Ärzten, Schwestern und maßgeblich in den Gruppen vorgeschlagen wurden und nehme weitere Vorschläge gerne an.

Auf meine Abneigung gegenüber der Therapie und den Gruppen kam vom Personal der Kommentar „Versuchen sie es doch einfach mal.“ „Wenn es nicht hilft, können sie es ja sein lassen.“ Ich hatte keine Ahnung wie es gehen sollte, also warum nicht versuchen?

Heute nach über 600 Gruppenbesuchen und zahlreichen Besuchen auf Entzugsstationen stelle ich fest: Trocken und clean leben funktioniert. Die, die es in den Gruppen vormachen, können nicht so falsch liegen. Und diese Menschen treffe ich regelmäßig in den Gruppen.

Ich weiß heute eines:
Alle Hinweise und Regeln, an die ich nicht glaubte, oder die ich anfangs nicht wahr haben wollte, funktionieren bei mir. Ich gebe heute bei meinem Engagement diese Hinweise und Regeln weiter und zeige an meiner Person und Anderen, dass sie funktionieren. Einfach nachmachen mit allen Konsequenzen.

Danke an das super tolle immer hilfsbereite Personal im Jüdischen Krankenhaus. Ich danke auch dem Verein. Anderes Leben e.V., hier Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Durch dieses Engagement lerne ich, auf mich aufzupassen, Achtsam zu sein und dies weiter zu geben… Eine sehr wertvolle Aufgabe für mich, Hilfe die ich erhalte, weiter zu geben.

Wer annimmt oder weiß, das er mehrmals leben wird, kann auf diese Regeln verzichten. Und wer sein Leben ruinieren möchte, auch.


Mein Dank für meinen Weg in die Trockenheit und das jetzt trockene Leben geht an das Jüdische Krankenhaus an die Ehemaligengruppen an den Verein Anderes Leben e.V. an das Sucht-Hilfesystem in Berlin.

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